Überraschendes Ereignis
Ein überraschend großartiges Erlebnis für die zahlreichen Hörer wurde am 3. Oktober Schuberts „Winterreise“ bei „Meisterinterpreten im Gespräch“ im Dippoldiswalder „Parksaal“.
Nach Rainer Trosts tenoralem „Schwanengesang“ im Vorjahr, der nicht durchweg höchsten Ansprüchen an Stimmkultur und sprachlicher Deutlichkeit gerecht wurde, war erneut ein Tenor zum Liederabend geladen, der nicht zum engen Kreis der hier nicht bezahlbaren Spitzentenöre gezählt wurde. Es gab also keine übertriebenen Erwartungen, nachdem Herr Holl ein Jahrzehnt lang den Leiter der Konzertreihe hinhielt (was einem Peter Schreier nie eingefallen wäre).
Aber es geschah eine wunderbare Überraschung. Es wurde ein großer, ein mitreißender Liederabend für alle, die Gesang und das Klavier auch als Begleitinstrument lieben, die den Gehalt der „Winterreise“ kennen und sie lieben.
Wollte man nach den ersten Liedern noch meinen, es sei nur ein außergewöhnlich guter Gestalter, der in den Bann ziehe, so war man am Ende auch von der Stimmkultur Marcus Ullmanns (auffällig flexibel, klar und weich in der Höhe), der von seiner „Schöpfungs“-Mitwirkung unter Prof. Rademann 1996 nur in blasser Erinnerung war, begeistert. Das war ein überzeugender Durchbruch zu großer Liedkunst, und das ging vor allem zu Herzen!
Mit schönem Singen allein ist’s heutzutage nicht mehr getan. Die ganze Persönlichkeit stand dahinter, ohne Regisseur zu sein, denn das war Lied für Lied eine kongeniale Durchführung des intimen Ganzen. Der Sänger traf die Landschaft der Seele genau, in der sich nach eigener Aussage des Komponisten Schmerz und Liebe einten.
Glück durch Liebe und Geborgenheit sind dem hoffnungslosen Wanderer der „Winterreise“ verloren. Müdigkeit, Einsamkeit, Schmerz, ja Erstarrung dominieren – Hoffnungslosigkeit. Das wurde bei aller Zurückhaltung, wenigen Ausbrüchen zu musikdramatischer Kunst, was der ehemalige Kruzianer und Dieskau-Schüler bot, und er artikulierte so, daß auch musikalische Laien im Hörerkreis gut mitgehen konnten. Zum Partner bedurfte es kaum eines Blickkontaktes. Es bestand absolute Einheit im Willen zur Aussage.
Michael Schönheit hatte am Hammerklavier (Originalversion Schuberts), dessen Maserung einige Kunstfreunde schon vorm Erklingen reizte, großen Anteil an diesem gelungenen Konzertnachmittag. Der „Dipps“ inzwischen verbundene Gewandhausorganist wurde höchsten Ansprüchen gerecht und widerlegte einmal mehr den unsinnigen Begriff vom „begleiteten Sololied“. Er war deutlich ein kunstvoll mitgestaltender Duo-Partner.
Eine unvermutete Zugabe nach den ohne Pause vorgetragenen 24 Liedern traf ergänzend den Ton des Konzertes und wurde zugleich zum stimmlichen Höhepunkt. Des musikalisch leider unverständigen Goethes berühmtes „Über allen Gipfeln ist Ruh’…“ war absolut CD-reif und berührte tief.
Komplimente auch dem Publikum, das innerlich mitging, gespannt tiefe Stille atmete, dankbar für die Veranstaltung war und entsprechend herzlich und laut nach dem notwendigen Moment der Verinnerlichung und Achtung vor dem Werk und seinen Interpreten applaudierte.
Von dem Text wider das Schicksal im drittletzten Lied („Mut“) ist auch die Leitung der Konzertreihe ergriffen. Trotz ständiger Abwesenheit von Rezensenten und zunehmendem Desinteresse höheren Ortes will die Konzertreihe nicht in der „Winterreise“ enden. Ach, könnten doch Sponsoren und Helfer den Text des „Leiermanns“ verstehen und wörtlich nehmen, damit der vorbereitete lange Abgesang noch gelingt…
Wolfgang Mende